Das Meisterstück

Er hatte gerade dem Hintern den letzten Feinschliff verliehen, jetzt wandte er sich wieder dem Gesicht zu. 

»Bei manchen Menschen ist da nicht viel Unterschied«, dachte er bei sich und er amüsierte sich köstlich über dieses Witzchen, dass ihm ganz spontan in den Sinn gekommen war. 

Milos legte den kleinen Meißel beiseite und tappte unbeholfen mit der Hand auf dem Beistelltischchen. Sein Gesicht war dicht am Weiß der Lippen und seine Augen wanderten über die zarten Züge der Nasenflügel hin zu den detaillierten Lachfältchen am Mundwinkel. Er achtete nicht darauf, was seine Linke tat. Er wollte nur die Brille greifen. Doch seine Hand stocherte stets ins Leere.

»Scheißdreck«, zischte Milos.

»Wo ist meine dumme Brille?«

Die tiefblauen Pupillen, die die Klarheit und die Reinheit der Augen eines Huskies besaßen und die sich eigentlich überhaupt nicht in die restliche Erscheinung eines schrumpeligen, eingefallenen Mittsechzigers einfügten, zuckten und wanderten. Die Brille befand sich nicht auf den Tisch. Wo hatte Milos nur wieder seine Brille liegen lassen?

Milos griff sich auf die Stirn, über die er seine Brille gezogen hatte und richtete sie sich über seine Augen.

»Wo hab ich bloß meine Brille hingetan?«, murmelte er.

Er stemmte die Arme in seine Hüften und drehte seinen Oberkörper zur Seite. Das seidendünne weiße Haar stand in wilden Strähnen vom Haupte ab. 

»Wo um alles in der Welt…«, kam ihm flüsterleise über die Lippen und er hob seinen rechten Arm und kratzte sich mit dem Mittelfinger am Kopf. 

Dann schob er sich die Brille über die Augen und erhoffte sich, so seine Brille besser sehen zu können. Milos verzweifelte und war sich sicher, seine Brille nie wieder zu finden. Dann kam ihm ein Gedanke, der ihm so hilfreich und gleichermaßen genial erschein, dass er tatsächlich ein wenig über seine eigene Smartness schmunzeln musste. Er griff in die Seitentasche seines weißen Mantels und zog eine Brille hervor. Damit, da war sich Milos ganz sicher, würde es ihm unendlich leichter fallen, seine Brille zu finden. Schlicht und ergreifend, weil er damit einfach besser sehen würde.

Er nahm die Brille ab und setzte seine Brille auf. Er steckte die Brille in die Manteltasche und richtete sich die Brille auf dem Gesicht. Seine Augen suchten und sie glitten und sie wanderten. Sein Kopf wandte und drehte sich und er nickte und er schüttelte. Aber irgendwie lag da stets ein Hauch von Verzweiflung in der Luft.

»Mist! Wo ist meine Brille?«, hauchte Milos.

»Ach was…«, zischte es zwischen seinen Lippen. Er gab auf.

Und er wischte sich den Schweiß von der Stirn und er fuhr eben ohne seine Brille fort. Aber nicht, ohne sich die Brille noch einmal zu richten.

Stunde um Stunde lief vorüber und Milos meißelte und feilte und schliff. Die Venus, die er schuf, die er aus dem kalten, weißen Kalkstein schuf, sollte sein Meisterstück werden. Der Fels war tot, er war unnahbar und er war nüchtern. Aber er, Milos, er allein vermochte es, dem leblosen Mineral eine Seele zu verleihen.

Und als sie, seine Venus schließlich in ihrer vollen Pracht vor ihm stand, fühlte er sich nicht einfach nur glücklich. Er fühlte sich allmächtig. Er fühlte sich göttlich. Sie ragte wie ein Mahnmal seines eigenen Genies empor, wie sie da auf dem Podestchen stand. In all ihrer Weiblichkeit, in all ihrer femininen Überlegenheit.

Und als Milos auf die Brüste der Plastik schaute und die Scham der Statue begutachtete, da fühlte er etwas. Und das hätte eigentlich der Stolz des Vaters, des Erzeugers hätten sein sollen. Aber es war etwas anderes.

Milos fühlte ein verführerisches Kribbeln in den Lenden. Es war mehr als eine Plastik. Die Venus war so echt, so lebendig. Unglaublich, wie nah sie einer Frau aus Fleisch und Blut kam. 

Das Zucken und Kitzeln in Milos Lenden wurde vehementer, intensiver. Und es war schon fast unerträglich und Milos schämte sich dafür, was er gerade dachte. Aber er musste es denken. Und er musste einen Plan fassen und diesen Plan auch umsetzen. Jetzt war er in der Zwickmühle. Diese Plastik, diese wunderschöne Figur, war sein Meisterwerk. Es war eine Schöpfung, die man – die ER – der Welt nicht vorenthalten dürfte. Aber er wollte sie für sich allein. Sie war zu schön, sie war zu weiblich. Sie war zu intensiv. Und zu intim.

Hatte er sich in die Venus verliebt? Ein schrecklicher Gedanke. Aber sein Herz pochte, sein Gesicht war heiß, sein Magen schwebte und in den Lenden zuckte es und kitzelte es. Die Venus – war sie die Liebe seines Lebens?

Milos begann zu schwitzen. Sein Atem wie die pulsierenden Stöße eines alten Dampfrosses auf Höchstgeschwindigkeit. Sein Atelier – es drehte und wand sich. Oben war unten und hinten war vorne. Es war ein Gefühl von heiß und kalt zugleich. Von Himmel und Hölle und von Winter und Sommer. Obwohl es Milos wie ein Frühling vorkam.

Er konnte nicht anders. Er hob die Hand. Er hob seine Rechte in freudiger Erregung. Und er führte sie an die Brust der Venus. An das steinerne Monument der Weiblichkeit, das so prall, so verführerisch und so kokett war. 

Wie ein herabfallender Eisregen überfiel Milos das Bibbern und Zittern am ganzen Leib. Er fühlte sich in einen Bottich aus Polarwasser und Lava getränkt, als die Finger schon fast die Rundungen der Statue berührten.

Aber plötzlich knallte es. Und Milos fühlte jäh etwas ganz anderes als Glückseligkeit: Er fühlte einen brennenden Schmerz an der Wange. Ein Ziehen, ein Stechen, ein Schocken – er hatte eine gescheuert bekommen. Verdutzt bis ins Mark begutachtete Milos sein Werk mit kugelrunden Kalbsaugen. Die Brille saß schief von links nach rechts und seine Haare sahen aus wie der Schwarzwald nach einem großräumigen Flächenbrand. 

Die Venus! Unglaublich! Aber die Venus, die Statue war zum Leben erwacht. Sie lebte!

Und sie hatte ihrem Schöpfer eine geklebt.

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